Als Therapeutin stehe ich regelmässig vor der Herausforderung aufzuzeigen, dass die Lebensweise, zu der wir Menschen konditioniert wurden, möglicherweise zur Entstehung psychischer Erkrankungen beiträgt.
Die Verbindung zwischen bestimmten Verhaltensweisen und Folgeerkrankungen wie Rauchen und Lungenkrebs ist offensichtlich. Da gestaltet es sich schwieriger, Verbindungen zwischen Emotionen und somatischen Symptomen wie Verdauungsstörungen, Konzentrationsproblemen und Migräne nachzuweisen und auch anzuerkennen. Dabei ist es ist entscheidend, die Verbindung zwischen Körper und Geist nicht nur für das Verständnis von Krankheit, sondern auch für das Verständnis von Gesundheit zu berücksichtigen. Häufig wird bei der Suche nach den Ursachen psychischer Erkrankungen ein Verdächtiger identifiziert, den viele von uns nach wie vor unterschätzen: Stress.
Forschungsarbeiten haben drei Faktoren identifiziert, die im Allgemeinen zu Stress führen:
- Ungewissheit
- Informationsmangel
- Verlust der Kontrolle
Diese drei Faktoren sind im Leben psychisch erkrankter Menschen häufig anzutreffen. Viele Menschen können sich in dem Glauben an Kontrolle wiegen, nur um später festzustellen, dass unbekannte Kräfte über viele Jahre hinweg ihre Entscheidungen und ihr Verhalten beeinflusst haben. Für manche zerstört letztendlich die Krankheit die Illusion von Kontrolle.
„Mein ganzes Leben lang bin ich die gewesen, die für alles verantwortlich war, die sich um alles und jeden gekümmert hat. Dann kam die Krankheit und der absolute Kontrollverlust. Die ersten Monate konnte ich kaum das Bett verlassen. Alles wurde zu einem Kraftakt. Ich konnte nicht essen, hatte keinen Antrieb, mein Körper baute ab. Ich verlor die Kontrolle über meine Gedanken.“
– Klientin Anna (Name abgeändert)
Stress ist ein lebensnotwendiger physiologischer Mechanismus, der uns hilft, aus dem Bett zu kommen. Gleichzeitig ist Stress jedoch eine der Hauptursachen für die Entstehung verschiedener Krankheiten. Um diesen Widerspruch aufzulösen, muss zwischen akutem und chronischem Stress unterschieden werden. Akuter Stress ist die unmittelbare, kurzfristige Reaktion des Körpers auf eine Bedrohung, während chronischer Stress die langfristige Aktivierung der Stressmechanismen ist, wenn eine Person Stressoren ausgesetzt ist, denen sie nicht entkommen kann.
Die biologischen Reaktionen des Körpers auf Stress sind in Notsituationen, für die sie entwickelt wurden, angebracht. Wenn jedoch dieselben Stressreaktionen chronisch und ohne Auflösung auftreten, führt dies zu Schäden. Ein chronisch erhöhter Cortisolspiegel kann Gewebe zerstören, während chronisch erhöhte Adrenalinspiegel den Blutdruck erhöhen und das Herz schädigen können. Die Auswirkungen von chronischem Stress auf das Immunsystem sind gut dokumentiert. Studien haben gezeigt, dass Pflegepersonen, die einem hohen Stresslevel ausgesetzt sind, eine verringerte Immunaktivität und eine verlangsamte Wundheilung aufweisen.
Vom evolutionären Standpunkt aus betrachtet ist der Stressprozess im Körper von entscheidender Bedeutung für das Überleben. Die Reaktion von Kampf oder Flucht besteht auch heute noch aus dem gleichen Grund, den die Evolution ihr von Anfang an zugedacht hat: Überleben. Allerdings haben wir die Verbindung zu unserem Bauchgefühl verloren, das als unser Frühwarnsystem dienen soll. Der Körper löst eine Stressreaktion aus, doch der Geist ist sich der Gefahren nicht bewusst. So verharren wir langfristig in einer Situation, die von physiologischem Stress geprägt ist, ohne uns der Notlage bewusst zu sein.
Die Hauptstressoren der meisten Menschen sind heute emotionaler Natur. Ähnlich wie Tiere im Labor, die keine Fluchtmöglichkeit haben, sind Menschen in Lebensweisen und emotionalen Verhaltensmustern gefangen, die ihrer Gesundheit schaden. Wir können nicht mehr fühlen, was in unserem Körper vorgeht, und demzufolge auch nicht auf eine Weise reagieren, die unserem Selbsterhalt dient. Stress schadet uns nicht, weil er ohne seinen ursprünglichen Nutzen fortbesteht, sondern weil wir die Fähigkeit verloren haben, die Signale zu erkennen.
Auf dem Weg der Heilung kann selbst die geringste Information von Bedeutung sein, denn es ist möglich, wieder zu lernen, sich selbst zu schätzen, die eigenen Gefühle auszudrücken und den inneren Ärger zu artikulieren, wenn andere unsere physischen oder emotionalen Grenzen überschreiten. Diese neuartige Erfahrung fördert die Entwicklung unserer emotionalen Kompetenz, eine Fähigkeit, die es uns ermöglicht, verantwortungsbewusst, nicht als Opfer und nicht selbstschädigend mit uns selbst und unserer Umgebung umzugehen. Dies trägt langfristig dazu bei, unnötige Belastungen zu vermeiden und unseren eigenen Heilungsprozess voranzutreiben. Dies bildet das Fundament meiner Herangehensweise, meinen psychotherapeutischen Ansatz: die eigenverantwortliche Förderung emotionaler Kompetenz durch Akzeptanz, Achtsamkeit, das Erkennen und Ausdrücken von Gefühlen, Autonomie, Selbstbehauptung und das kritische Hinterfragen dysfunktionaler Beziehungen.
Quellen:
G. Maté. “Wenn der Körper Nein sagt”, Narayana Verlag (2021)
E. Chelmicka-Schorr & B. G. Arnasson. “Nervous System – Immune System Interactions and Their Role in Multiple Sclerosis”, Annals of Neurology, supplement to vol. 36 (1994)